Kurt Schelter

Amnesie - Der größte Feind Europas

Mai 30, 2012

Amnesie - Der größte Feind Europas

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Amnesie [PDF]
Arbeits- und Sozialrecht in Deutschland und Europa
24 Apr., 2023
Am 24. Februar 2022 haben sich nicht nur die geopolitischen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa und weltweit verändert.
27 Jan., 2022
Der Europäische Rat von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 hat die jahrelangen Bemühungen der damals 15 Mitgliedstaaten um eine gemeinsame Politik in den Bereichen Justiz und Inneres zu einem konkreten Vorhaben verdichtet: In engster Zusammenarbeit mit den 10 Bewerberstaaten aus dem östlichen Mitteleuropa sowie Malta und Zypern sollte die Europäische Union, über den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion hinaus, zu einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ausgebaut werden. Wichtige Elemente dieser neuen Politik sollten sein eine gemeinsame Asyl-, Migrations- und Visapolitik, ein für die Bürger begreif- und greifbarer Rechtsraum, die entschlossene Bekämpfung vor allem der grenzüberschreitenden, organisierten Kriminalität und des Terrorismus, sowie eine bessere Abstimmung bei der Vertretung dieser Ziele der EU nach außen. Deutschland hatte dafür bei seiner Präsidentschaft der EU von 1994 und der Schengen-Staaten 1998 den Weg geebnet – gegen den hinhaltenden Widerstand des Vereinigten Königreichs und auch einiger Bewerberstaaten. Das wird heute oft vergessen. Die Vorteile eines solchen Raums der Freiheit, der Sicherheit und Rechts sollten nicht nur den Bürgern und Unternehmen in der EU zugutekommen. Auch für die Angehörigen von Drittstaaten, die sich rechtmäßig als Touristen, Auszubildende, Arbeitnehmer, Arbeitgeber oder Studenten vorübergehend oder dauerhaft in der EU aufhalten, sollte dies ein offener Raum der Freizügigkeit, ohne Binnengrenzen, aber eben auch ein Raum sein, in dem deren Rechte und Grundfreiheiten effektiv geschützt werden. Mit der Formulierung dieser ehrgeizigen Ziele sollten aber auch Dritte, außerhalb der EU Stehende, bewusst in die Pflicht genommen werden: Ein erfolgreicher Kampf gegen politische Verfolgung und den Schutz davor, gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus, gegen Schlepper und Menschenhändler, kann nur Erfolg haben, wenn die Herkunftsländer dieser Risiken auf geeignetem Weg für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gewonnen werden können. Dieses ehrgeizige Konzept ist von den Mitgliedstaaten auch nach der bisher größten und politisch wohl riskantesten Erweiterung der EU zum 1. Mai 2004 und zum 1. Januar 2007 um weitere 12 Mitglieder entschlossen weiterverfolgt worden. Das Ziel eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, im Maastricht-Vertrag von 1992 noch als „dritte Säule“ einer zukünftigen Politischen Union, aber eben als intergouvernementale Zusammenarbeit angelegt, nimmt nach dem Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, im EU-Vertrag eine besonders prominente Stellung ein: Nach Art. 3 Abs. 2 EUV bietet die Union „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist“. Titel V des 4. Kapitels des dritten Teils des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) trägt die klare, ambitionierte Überschrift: „Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. In diesem Raum sollen „die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und –traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“ (Art. 67 Abs. 1 AEUV). Die Union „stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist“ (Art. 67 Abs. 2 Satz 1 AEUV). Den nationalen Parlamenten trägt Art. 12 EUV auf, „sich im Rahmen des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts an den Mechanismen zur Bewertung der Durchführung der Unionspolitiken in diesem Bereich ... (zu) beteiligen“. Die Union hat in Jahren seit 1999 große Anstrengungen unternommen, aus der Vision eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die Unionsbürger erlebbare Wirklichkeit werden lassen und die Erfolge dabei sind, gemessen an den damals formulierten, ehrgeizigen Zielen, bemerkenswert: Die Freizügigkeit der Unionsbürger wird dort, wo die Regeln des Schengenraums bereits implementiert sind, so gewährleistet, wie sich die Väter der Schengen-Idee, Mitterrand und Kohl, dies in den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgestellt haben. Die durchschnittliche Sicherheit der Bürger in der EU vor internationaler, organisierter Kriminalität und Terrorismus hat sich durch die Einrichtung von EUROPOL, EUROJUST und FRONTEX und eine wesentlich verbesserte Zusammenarbeit der nationalen Polizeibehörden messbar verbessert. Auch das Niveau bei der Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit im Raum der EU und beim Zugang der Unionsbürger zum Recht konnte in vielen Bereichen, wie dem Zivilrecht und dem Strafrecht, in den vergangenen Jahren im EU-Raum angehoben werden. Der Leser wird sich vor diesem Hintergrund fragen, warum dann der Titel dieses Buches trotzdem mit einem Fragezeichen endet. Die Antwort auf diese berechtigte Frage muss mit der Feststellung beginnen, dass es bei den folgenden Gedanken nicht nur um die Europäische Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehen soll, sondern um ganz Europa. Aber auch mit Blick auf die EU ist dieses Fragezeichen angesichts der aktuellen, äußerst kritischen Diskussion zu diesem Thema unausweichlich. Das Ergebnis vorweg: Ich bleibe dabei, nach aller persönlichen Erfahrung bei der Formulierung der Idee eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Das Komitee des Friedens-Nobel-Preises für 2012 hatte Recht mit der Feststellung, die größte Errungenschaft der EU sei „ihr erfolgreicher Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte“. Denn eine Gemeinschaft von einst 6 und heute 28 Staaten hat sich sicher auch deshalb als Friedensgarant bewährt, weil sie sich den Werten von Freiheit, Sicherheit und Recht verschrieben hat. Das Ziel war richtig und bleibt richtig. Die Zwischenergebnisse lassen sich sehen. Aber trotz allem ist eine kritische Reflexion nötig: In Art. 2 Satz 1 EUV wird festgestellt, dass „die Achtung der Menschwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“,...die Werte (sind), auf die sich die Union gründet“. Dürfen wir danach „Freizügigkeit“ mit „Freiheit“ gleichsetzen? Oder ist umfassende persönliche Freiheit jedenfalls nach heutigem Verständnis mehr als Bewegungsfreiheit? Stand vielleicht dieser Aspekt der Freiheit nach 40 Jahren des Eisernen Vorhangs mitten durch Europa zu deutlich im Vordergrund? Heute haben wir uns längst daran gewöhnt, dass wir ohne Pass von Helsinki nach Lissabon reisen können. Aber im Schatten der Freude über den Raum ohne Binnengrenzen haben sich Bedrohungen von Freiheit in der EU festgesetzt, die die Autoren der Schlussfolgerungen von Tampere noch nicht im Blick haben konnten: Wer konnte ahnen, dass es jemals ernsthafte Debatten über Pressefreiheit in einem Mitgliedstaat der EU geben könnte? Müssen wir „Sicherheit“ für diesen Raum neu definieren vor dem Hintergrund, dass die Unionsbürger nach aktuellen Erfahrungen nicht nur durch international organisierte Verbrecher, sondern auch durch das exzessive Verhalten von Geheimdiensten des eigenen Landes oder von Drittländern bedroht werden können, das sich jedenfalls ganz nah am Rande der (Völker)- Rechtswidrigkeit bewegt? Unsere Daten sind jedenfalls nicht erst dann wirklich sicher, wenn alle in der Verfügungsgewalt staatlicher Stellen sind, wie das von hohen Repräsentanten z. B. der USA immer wieder dreist behauptet wird. Ein Beitrag zu den gemeinsamen Herausforderungen der USA und der EU darf deshalb in diesem Buch nicht fehlen. Und zahlen nicht Tausende von illegalen Einwanderern, meist Opfer von Schlepperbanden, einen zu hohen Preis für unsere Sicherheit – die Sicherheit vor der unheilvollen Verbindung von illegaler Migration, Kriminalität und Terrorismus und Sicherheit vor der „Einwanderung in die Sozialsysteme“? Wir können auch nicht darüber hinwegsehen, dass viele Kritiker, sicher in einer sehr zweifelhaften Auslegung der Unionsverträge, unter „Sicherheit“ auch „soziale Sicherheit“ verstehen. Dann ist der Hinweis berechtigt, dass die Finanzkrise der letzten Jahre in einigen Mitgliedstaaten vor allem zu einer sehr hohen Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen geführt hat und es stellt sich Frage nach der sozialen Dimension der EU. Und schließlich: Wie steht es tatsächlich um die „Herrschaft des Rechts“ in der EU und ihren Mitgliedstaaten? Steht vielleicht da und dort die „Achtung der nationalen Identität“ (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV), die ja ihre historischen Wurzeln hat, einer Garantie der gemeinsamen Werte recht sperrig im Weg? Warum müssen die Organe der EU ihre gesamte Autorität aufbieten, um einem neuen Mitgliedstaat klarzumachen, dass Kriegsverbrecher keinen Schutz vor den Prinzipien des Rechtsstaats genießen dürfen? Ist es mit der Herrschaft des Rechts vereinbar, dass Repräsentanten der EU und Ihrer Mitgliedstaaten dort strafwürdig, aber letztlich straflos verunglimpft werden, wo sie Hilfe leisten wollen? Hat ein Mitgliedstaat, der nur zögernd und unzureichend den Kampf gegen die Geldwäsche aufnehmen will, der in der EU zu einem wichtigen Politikziel gehört, nicht sein Recht auf finanzielle Hilfe verwirkt? Die Autoren des Vertrages von Lissabon, zunächst die Mitglieder des Verfassungskonvents und dann leider auch die Teilnehmer an der Regierungskonferenz, haben zu vorlaut als Tatsache festgestellt, was erst wachsen muss: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, wird in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EUV festgestellt. Dies hat sich doch als etwas schief und voreilig herausgestellt. Denn die Union sind die Bürger und diesen wird nichts „geboten“, sie müssen es selbst schaffen, in einem angwierigen, schwierigen politischen Prozess. Verweigern sie sich dem, wird dieser Raum nicht weiterwachsen, über die jetzige Union der 28 hinaus, sondern erodieren. Dem sollen die folgenden Beiträge entgegenwirken. Dabei soll vor dem Hintergrund anhaltender und zum Teil recht scharfer und grundsätzlicher Kritik an der Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten in verschiedenen, sensiblen Bereichen zum einen in Erinnerung gerufen werden, dass einige Herausforderungen und Risiken bestehen sind, auch wenn sie zur Zeit weniger virulent sind und deshalb die zu deren Beherrschung eingerichteten Organe und Agenturen sowie die von diesen eingeleiteten Maßnahmen nach wie vor ihre Berechtigung haben, vielleicht da und dort in einer an die aktuelle Lage angepassten Form: Die globale Bedrohung durch Terrorismus und organisierte Kriminalität hält an. Deshalb gibt es zu einer engen Zusammenarbeit mit den USA keine Alternative, trotz der verständlichen Irritationen wegen fehlgeleiteter Ausspähungstätigkeit der NSA. Die in einem Beitrag im Jahr 1996 in New York, also 5 Jahre vor dem verheerenden Anschlag dort, ausgesprochenen Mahnungen und Warnungen sollten zu denken geben. Die Opferzahlen aus der unverantwortlichen Schleppertätigkeit über das Mittelmeer sind bestürzend. Aber dies darf nicht dazu führen, dass die schwierigen Ansätze einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik der EU im Ganzen und radial in Frage gestellt werden. Kriminell gesteuerte, illegale Migration und Asylmissbrauch sind und bleiben auch ein Motor für Terrorismus und organisiertes Verbrechen. Die Statistiken zeigen, dass diese Herausforderung wieder steil ansteigt und sich in Deutschland den Zahlen aus Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts nähert. Das Versagen einer Reihe von Sicherheitsbehörden in Deutschland im Zusammenhang mit den sogenannten NSU-Morden ist unbegreiflich. Aber es wäre fatal, daraus die falschen Konsequenzen zu ziehen: Wir brauchen einen besseren, nicht einen schwächeren Verfassungsschutz, besseren, nicht weniger Polizeiarbeit und mehr Zusammenarbeit, wollen wir die andauernde Herausforderung durch kriminellen Radikalismus jeder Form und jeder Farbe bestehen. Schließlich soll daran erinnert werden, dass die Europäische Union nicht Europa ist. Die Attraktivität der Union für weitere europäische Staaten ist ungebrochen. Deshalb kann die Frage, ob ganz Europa ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Recht werden kann, nicht beantwortet werden ohne Reflexion darüber, ob es weitere Mitgliedstaaten der EU geben soll und wird und ob die Strahlkraft dieser Werte über die Grenzen der EU hinaus groß genug ist, z. B. auch den großen Nachbarn im Osten zu erreichen. Gemeinsame Überlegungen z. B. von Deutschland und Russland dazu aus der Vergangenheit sind deshalb noch heute aktuell. Die Haltung der USA und Kanadas zu einer Erweiterung der EU, z. B. auf weitere Staaten auf dem Balkan und auf die Türkei, gewinnt vor dem Hintergrund der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit beiden Staaten, die mit Kanada zu den wichtigsten Punkten bereits abgeschlossen sind, neues Gewicht. Es bleibt dabei: „Amnesie ist der größte Feind Europas.“ Das gilt auch für unsere Werte wie Freiheit, Sicherheit und Recht. Brüssel, im Dezember 2013 Kurt Schelter
11 März, 2014
Annäherungen
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