Kurt Schelter

Die christlichen Kirchen zur Finanz- und Wirtschaftskrise*

Die christlichen Kirchen haben sich – mit einiger Verspätung – zu den ethisch-moralischen, gesellschaftlichen und sozialen Implikationen der nunmehr seit Monaten andauernden Finanzund Wirtschaftskrise geäußert: 


Papst Benedikt XVI. hat für die Katholische Kirche in seiner Enzyklika „caritas in veritate“ die gegenwärtige Krise zum willkommenen Anlass genommen, die etwas in Vergessenheit geratenen Maximen der katholischen Soziallehre in Erinnerung zu rufen und zugleich ihre Aussagen den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft anzupassen – selbstverständlich mit globalem Anspruch. Dabei beschränkt sich der Papst nicht auf die unmittelbar mit der Krise des Finanzsystems und der Wirtschaft zusammenhängenden Fragen, sondern bezieht in seine Betrachtungen auch die Probleme der Bevölkerungs-, Umwelt-, Entwicklungs-, Familien- und der Migrationspolitik mit ein und befasst sich kritisch mit den Themen Technik, Arbeitslosigkeit und Armut. In all diesen Fragen kann sich das Oberhaupt der Katholischen Kirche auf die einschlägigen Enzykliken seiner verschiedenen Vorgänger beziehen. Dabei sind folgende, zum Teil sehr überraschende, weil recht „unorthodoxe“ Feststellungen besonders hervorzuheben:


Die Kirche habe keine technischen Lösungen anzubieten und beanspruche keineswegs, sich in die staatlichen Belange einzumischen. Sie habe aber zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird. Ohne Wahrheit verfalle man in eine empiristische und skeptische Lebensauffassung, die unfähig sei, sich über die Praxis zu erheben.


Gerade in der Krise sei es wünschenswert, dass eine tiefer empfundene Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Bürger am Staat wachse.


Wir sollten in unserem Denken und Handeln nicht nur zeigen, dass die traditionellen sozialethischen Prinzipien, wie die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung, nicht vernachlässigt oder geschwächt werden dürfen, sondern auch, dass in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen.


Die Finanzmakler müssten die eigentlich ethische Grundlage ihrer Tätigkeit wieder entdecken, um nicht jene hoch entwickelten Instrumente zu missbrauchen, die dazu dienen können, die Sparer zu betrügen. Redliche Absicht, Transparenz und die Suche nach guten Ergebnissen seien miteinander vereinbar und dürften nie voneinander gelöst werden. Wenn die Logik des Marktes und die Logik des Staates mit gegenseitigem Einverständnis auf dem Monopol ihrer jeweiligen Einflussbereiche beharrten, gingen langfristig die Solidarität in den Beziehungen zwischen den Bürgern, die Anteilnahme und die Beteiligung sowie die unentgeltliche Tätigkeit verloren. Die exklusive Kombination Markt-Staat zersetze den Gemeinschaftssinn.


Es sei in einer globalisierten Wirtschaft nicht zulässig, eine Auslagerung von Wirtschaftstätigkeit nur vorzunehmen, um von bestimmten Begünstigungen zu profitieren oder gar, um andere auszubeuten, ohne einen echten Beitrag für die Gesellschaft vor Ort zur Schaffung eines stabilen Produktions- und Sozialwesens zu leisten, das eine unverzichtbare Bedingung für eine beständige Entwicklung darstellt.


Bei der Suche nach Lösungen in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise müsse die Entwicklungshilfe für die armen Länder als ein echtes Mittel zur Vermögensschaffung für alle angesehen werden.


Eine Möglichkeit der Entwicklungshilfe könnte auf der wirksamen Anwendung der sogenannten steuerlichen Subsidiarität beruhen, die es den Bürgern gestatten würde, über den Bestimmungszweck von Anteilen ihrer dem Staat erbrachten Steuern zu entscheiden. Wenn partikularistische Ausartungen vermieden würden, könne dies dazu verhelfen, Formen sozialer Solidarität von unten zu fördern, wobei offensichtliche Vorteile auch auf Seiten der Solidarität für die Entwicklung bestehen.


Bei der Betrachtung der Probleme der Entwicklung müsse man zwingend den direkten Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit hervorheben. In vielen Fällen seien die Armen das Ergebnis der Verletzung der Würde der menschlichen Arbeit, da sowohl ihre Möglichkeiten beschränkt werden (Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung), als auch die Rechte, die sich aus ihr ergeben, vor allem das Recht auf angemessene Entlohnung und auf die Sicherheit der Person des Arbeitnehmers und seiner Familie, entleert werden.


Es sei gut, dass sich die Menschen bewusstwerden, dass das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist. Die Konsumenten hätten daher eine klare soziale Verantwortung, die mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens einhergehe. Sie müssten ständig zu der Rolle erzogen werden, die sie täglich ausüben und die sie in der Achtung vor den moralischen Grundsätzen ausführen können, ohne die eigene wirtschaftliche Vernünftigkeit des Kauf-Akts herabzusetzen.


In Überwindung der eigenen Grenzen seien die Gewerkschaftsorganisationen dazu aufgerufen, sich um die neuen Probleme unserer Gesellschaft zu kümmern, zum Beispiel auf die Fragen, die sich aus dem Konflikt zwischen Arbeitnehmer und Konsument ergeben können.


Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland übt in seinem „Wort zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise“ etwas mehr Bescheidenheit: Zwar nimmt der Rat die globale Dimension der Krise in den Blick, bemüht sich aber zugleich, deren besondere nationale Relevanz und die besondere Herausforderung der Evangelischen Kirche in Deutschland dabei in den Vordergrund zu stellen. Verantwortung, Vertrauen und Mut zum Bekennen von Versagen sind die Hauptthemen dieses Kirchenwortes, das sich auf eine Reihe bedeutender Vorgängerdokumente aus der Vergangenheit berufen kann.


Es fällt auf, dass der Rat der Evangelischen Kirche in fast allen Punkten den von der Politik eingeleiteten Maßnahmen zustimmt. Manche Aussagen gehen inhaltlich über Zitate der bekannten politischen Leitlinien der Bundesregierung kaum hinaus. In diesen Passagen fehlt dem Kirchenwort sicher die intellektuelle und spirituelle Attraktion. Aber was die Politik gut und richtig gemacht hat, darf sich auch die Kirche zu eigen machen, vor allem dann, wenn es sich im Wesentlichen an den bewährten Grundsätzen der evangelischen Sozialethik orientiert. 


Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland nimmt die gegenwärtige Krise zum Anlass, diese Prinzipien zu aktualisieren und zu konkretisieren und stellt dabei den individual-ethischen Ansatz und die Verantwortung der heute in der Krise Handelnden für die nachfolgenden Generationen in den Mittelpunkt:


Die Krise habe auch eine individualethische Dimension: Die Handelnden hätten ihre Freiheit allein zur unmittelbaren Verwirklichung von Einzelinteressen genutzt. Verantwortlich handele aber nur derjenige, der die eigenen Entscheidungen auf ihre Folgen hin ansieht und darauf prüft, dass sie anderen keinen Schaden zufügen. Dies gelte angesichts der globalen Verflechtungen und Abhängigkeiten heute auch weltweit.


Gerade in der Krise sei ein tragfähiges ethisches Fundament notwendig.


Das Konzept der klassischen Sozialen Marktwirtschaft bedürfe deshalb der Erweiterung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft.


Dieses Konzept sei moralisch weit anspruchsvoller als bisher erkannt und erfordere vor allem, das den Menschen Mögliche zu tun, damit auch die nächsten Generationen Leben und Zukunft haben.


Der individuelle Eigennutz, der ein tragendes Strukturelement der Marktwirtschaft ist, könne isoliert zum zerstörerischen Egoismus verkommen. Über die politische und wirtschaftliche Rahmensetzung hinaus sei es eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben.


Die Balance zwischen persönlichem Wohlergehen und sozialer und ökologischer Verantwortung gehe jeden an. Sie sei nicht zuletzt eine Frage des Lebensstils.


Beide Dokumente sind in den Medien kaum wahrgenommen und in kritischen Kirchenkreisen eher enttäuscht aufgenommen worden. Die Kritik reicht – zugespitzt zusammengefasst – von fachlich ungenügend fundiert, über reichlich naiv bis praktisch wertlos.


Dabei wird tunlichst übersehen, dass die Kirchen in vielen Fällen auch umgekehrt die berechtigte Frage stellen können, ob bei der oft harschen Kritik an bestimmten kirchlichen Lehrsätzen sowie der Theologie und ihren Repräsentanten ein ausreichender Sachverstand attestiert werden kann. Außerdem wird verkannt, dass solche kirchlichen Verlautbarungen trotz ihrer sicher auch vorhandenen politischen Ambition, vor allem einem internen Zweck dienen:


Den kirchlichen Würdenträgern, den Laien, Gläubigen und Mitgliedern soll Orientierung in einer Zeit weitgehender Orientierungslosigkeit gegeben werden. Das ist gerade in einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise bisher unbekannten Ausmaßes, die eindeutig auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen ist, ein berechtigtes Anliegen; geht es doch schlicht um die Frage, ob die beiden christlichen Kirchen in dieser globalen Krise bisher unbekannten Ausmaßes etwas zu sagen haben und wie sich das anhört und liest.

*Erstveröffentlichung in ZfSH/SGB 2009, S. 463ff. und in: Schelter, Annäherungen, Eurolaw Verlag 2014, S. 171ff www.kurt-schelter.eu

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