Kurt Schelter

Demokratisierung der Verbände?

Demokratie als Ordnungsprinzip in privilegierten Interessenverbänden*

Thesen

  1. Der Begriff der Demokratie ist nicht abstrakt definierbar. Die demokratische Idee bedarf für jede verfassungsrechtliche Lage einer neuen Inhaltsbestimmung.

  2. Der Forderung nach Demokratisierung kommt verfassungsrechtliche Relevanz nur zu, wenn sie an das demokratische Prinzip in seiner konkreten, konstitutionellen Ausformung anknüpft. Sie bezeichnet dann die Durchsetzung der demokratischen Idee in deren Geltungsbereich oder die Erstreckung über diesen Geltungsbereich hinaus auf andere Willensbildungsprozesse.

  3. Das Postulat der Demokratisierung der Gesellschaft setzt die Anerkennung eines (funktionellen) Unterschieds zwischen Staat und Gesellschaft voraus. Das Grundgesetz ist eine Staatsverfassung und als solche grundsätzlich gesellschaftspolitisch neutral. Die Grenzen dieser Neutralität sind dort gezogen, wo ordnungspolitische Enthaltsamkeit des Verfassunggebers im gesellschaftlichen Bereich die Verwirklichung der verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen des Grundgesetzes (Demokratie, Gewährleistung politischer Grundrechte, Sozialstaatsgebot) gefährden würde.

  4. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes regelt die Willensbildung des Staates. Es wird inhaltlich durch die Maßgeblichkeit des Willens des Gesamtvolkes für die staatliche Willensbildung (Idee der inneren Souveränität des Volkes) bestimmt.

  5. Mit dem verfassungsrechtlichen Gebot innerparteilicher Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) erweitert das Grundgesetz den Anwendungsbereich des demokratischen Prinzips auf außerstaatliche Bereiche. Eine analoge Anwendung der Vorschrift des Art. 21 Abs. l Satz 3 GG ist nur auf solche Organisationen zulässig, die – ähnlich den politischen Parteien – an der Willensbildung des Staates unmittelbar beteiligt sind.

  6. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes enthält keinen Verfassungsauftrag zur Verwirklichung einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Auch in Verbindung mit dem demokratischen Prinzip kommt dieser Staatszielbestimmung keine institutionelle Bedeutung zu.

  7. Die Forderung nach Harmonie von Staats- und Gesellschaftsverfassung ist kein Verfassungsgrundsatz.

  8. Mit dem Grundrecht auf Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. l, 2 und Art. 2 Abs. 1 GG) lässt sich die Forderung nach demokratischer Ordnung aller gesellschaftlichen Bereiche nicht begründen. In seiner demokratischen Komponente enthält dieses Grundrecht jedoch einen Anspruch des einzelnen auf gleichberechtigte Mitbestimmung in allen seine persönliche Lebensführung unmittelbar betreffenden Fragen.

  9. Der Begriff des Verbandes ist funktionell-strukturell zu bestimmen. Als Verbände sind danach Organisationen zu bezeichnen, die, aus einer Vielheit von natürlichen oder juristischen Personen oder aus einer Vermögensmasse bestehend und zu einem Mindestmaß verfasst, auf einen gemeinsamen Zweck gerichtet sind.

  10. Die Qualität eines Interessenverbandes erlangt ein Verband dadurch, dass er die ihn konstituierenden Interessen aktiviert und unter Einsatz seiner politischen und sozialen Macht auf politischem Weg durchzusetzen versucht.

  11. Privilegierte Interessenverbände sind Interessenverbände, die institutionell (als Mitglieder von Beratungs- oder Beschlussorganen) oder verfahrensmäßig (im Wege der Anhörung) an der Willensbildung des Staates beteiligt sind.

  12. Als Existenzgrundlage der Interessenverbände in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes kommt nur Art.9 Abs.1 GG in Betracht. Diese Bestimmung enthält ein Doppelgrundrecht (positive und negative Vereinigungsfreiheit) und eine Institutsgarantie.

  13. Das Wirken der Interessenverbände im demokratischen Staat wird als spezifisch politische Funktion der kollektiven Vereinigungsfreiheit garantiert. Die Forderung nach Partizipation vermag die Beteiligung von Interessenverbänden an der Willensbildung des Staates nicht zu rechtfertigen. Partizipation ist ein heuristischer, kein verfassungsrechtlicher Begriff.

  14. Die politischen Grundrechte (Art. 5, 8 und 9 GG) üben eine dienende Funktion gegenüber dem demokratischen Prinzip aus. In ihrer demokratischen Komponente gewähren sie Einzelnen und sozialen Gruppen das Recht der Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung in den sie betreffenden Fragen in dem Maße, das zur Verwirklichung der demokratischen Idee erforderlich ist.

  15. Die Geltung des demokratischen Prinzips schließt eine Mitwirkung von Interessenverbänden an der Willensbildung des Staates nicht aus. Die verfassungsrechtliche Garantie der Selbstverwaltung beweist, dass das Grundgesetz für die Beteiligung der Betroffenen an der Willensbildung des Staates offen ist, sofern dies der Stärkung der materiellen demokratischen Legitimation der Staatstätigkeit dient.

  16. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mitwirkung von Interessengruppen an der Willensbildung des Staates werden durch den demokratischen Grundsatz der Maßgeblichkeit des Willens des Gesamtvolkes und das Prinzip der parlamentarischen Kontrolle und Verantwortlichkeit der Regierung gezogen. Den Interessenverbänden ist die Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung in Form der selbständigen Erledigung von Staatsaufgaben unter den für die Selbstverwaltung geltenden Bedingungen und in Form der institutionellen oder verfahrensmäßigen Mitwirkung bzw. der unterparitätischen Mitentscheidung gestattet.

  17. Die politischen Grundrechte der Art. 5, 8 und 9 GG gebieten die Einhaltung eines demokratischen Mindeststandards beim Prozess der Willensbildung in Interessenverbänden. In privilegierten Interessenverbänden verlangen sie die demokratische Legitimation aller Verbandsvertreter durch einen Willensbildungsprozeß, der auf die Verbindlichkeit des allgemein, frei und gleichberechtigt gebildeten Mehrheitswillens gerichtet ist.

  18. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes verlangt die demokratische Binnenstruktur von privilegierten Interessenverbänden, deren Wirken eine demokratische Relevanz zukommt. Die Übertragung organisatorischer Anforderungen der politischen Demokratie ist jedoch nur insoweit geboten, als dies für die Gewährleistung der demokratischen Willensbildung des Staates erforderlich und nur insoweit zulässig, als die Anwendung dieser Grundsätze praktikabel ist.

  19. Der kollektive Aspekt des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit garantiert auch den privilegierten Interessenverbänden Satzungsautonomie im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Die kollektive Vereinigungsfreiheit dient der Verwirklichung der demokratischen Willensbildung des Staates durch Gewährleistung eines Prozesses der freien Willensbildung im Bereich der Gesellschaft. Dieses Grundrecht verbietet deshalb keine organisatorischen Anforderungen, die der Verwirklichung der demokratischen Willensbildung des Staates dienen.

  20. Eine demokratische Willensbildung des Staates ist nur gewährleistet, wenn jeder privilegierte Interessenverband der Verpflichtung unterliegt, dem Aufnahmeantrag eines Bewerbers, der die subjektiven und objektiven Merkmale erfüllt (qualifizierter Bewerber), zu entsprechen. Diese Verpflichtung gilt nicht, wenn der Bewerber bereits Mitglied eines ebenfalls privilegierten Konkurrenzverbandes ist. Ein der Verpflichtung des Verbandes korrespondierendes materielles subjektives privates Recht des Bewerbers auf Aufnahme in den Verband kann aus dem demokratischen Prinzip nicht hergeleitet werden.

  21. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes verlangt die Einrichtung von Willensbildungsorganen in privilegierten Interessenverbänden, die nach dem Versammlungsprinzip als Mitglieder- oder Vertreterversammlungen organisiert sein müssen. Für die Zuständigkeit der Verbandsversammlung besteht eine Vermutung. Ihr sind das Recht der Selbstversammlung, der Satzungsänderung, der Wahl der Verbandsorgane, die Richtlinien- und Geschäftsordnungskompetenz sowie Kontrollbefugnisse gegenüber der Verbandsführung vorbehalten.

  22. Die Willensbildungsorgane privilegierter Interessenverbände fassen ihre Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip.

  23. Die Verfassung des privilegierten Interessenverbandes muss der Minderheit der Verbandsmitglieder Mitwirkungsrechte an der Willensbildung des Verbandes einräumen, die den Prozess einer Verbandsopposition ermöglichen. Die institutionelle Absicherung dieses Prozesses ist durch das demokratische Prinzip nicht gefordert. Dies gilt auch für Verbände mit Monopolstellung. Das Recht auf innerverbandliche Opposition ist inhaltlich durch das Gebot der Verbindlichkeit mehrheitlich getroffener Entscheidungen und in seiner Ausübung durch die Verpflichtung der Verbandsmitglieder beschränkt, die Verbandsinteressen zu wahren.

  24. Die demokratische Willensbildung des Staates erfordert die demokratische Legitimation der Verbandsvertreter. Diese ist nur gewährleistet, wenn allen Verbandsmitgliedern der gleichberechtigte und freie Zugang zu den Verbands-funktionen zusteht. Der Verbandsvorstand muss in allgemeiner, freier und gleicher Wahl bestellt werden, die in regelmäßigen Abständen zu wiederholen ist. Der Verbandsversammlung muss das Recht eingeräumt sein, den Vorstand auch während seiner Amtszeit abzuwählen.

  25. Eine Mitgliedschaft im Vorstand kraft Amtes ist durch das demokratische Prinzip nicht schlechthin ausgeschlossen. Unbedenklich ist die Mitgliedschaft ihrerseits demokratisch legitimierter Funktionsträger. Die Anzahl der vom Vorstand kooptierten Mitglieder darf jedoch die Differenz zwischen Gesamtzahl der Vorstandsmitglieder und dem höchsten Beschlußquorum nicht überschreiten.

  26. Die übrigen Verbandsvertreter müssen ihre Legitimation ebenfalls durch demokratische Wahl oder ihrerseits demokratisch legitimierten Verbandsorganen herleiten.

  27. Die Forderung nach Einrichtung rechtsprechender Verbandsorgane ist kein Postulat des demokratischen Prinzips. Soweit die Satzung privilegierter Interessenverbände die Einrichtung eines rechtsprechenden Verbandsorgans vorsieht, müssen Bestellung und Willensbildung dieser Organe nach demokratischen Grundsätzen erfolgen. Die weitere Ausgestaltung der Verfahrensordnung unterliegt keinen demokratischen Anforderungen.

  28. Öffentliche Funktion und Mandat eines privilegierten Interessenverbandes sind unvereinbar. Die Verbandsvertreter sind Träger eines imperativen Mandats und dem Verbandsinteresse verpflichtet. Die Inhaber öffentlicher Funktionen sind dem Interesse des Gesamtvolkes verpflichtet. Mit der Übertragung einer öffentlichen Funktion wird die bereits erfolgte Bestellung zum Funktionär eines privilegierten Interessenverbandes unwirksam, eine beabsichtigte Bestellung unzulässig.

*Aus der Dissertation an der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg 1976; Schriften zum öffentlichen Recht, Verlag Duncker & Humblot, Band 300, Berlin 1976; s. auch Schelter, Annäherungen, EurolawVerlag 2014, S. 65ff. www.kurt-schelter.eu

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